Christian Drosten: “Wir haben es selbst in der Hand” | ZEIT ONLINE

Wir haben in Deutschland eine realistische Chance, besser durch Herbst und Winter zu kommen als viele andere Länder. 

Christian Drosten ist Leiter der Virologie an der Charité in Berlin. Er zählt zu den Mitentdeckern des Sars-Coronavirus, das mit dem aktuellen Pandemieerreger verwandt ist. Sein Team entwickelte den weltweit ersten Test auf Sars-CoV-2. © Jacobia Dahm für ZEIT ONLINE

Quarantäne vor Familientreffen, Halskratzen ernst nehmen und mögliche Impfungen nicht überschätzen: Was der Virologe Christian Drosten jetzt für den Corona-Winter rät.

Quelle: Christian Drosten: “Wir haben es selbst in der Hand” | ZEIT ONLINE

Wie gut ist Deutschland vorbereitet? 488 Betten, vorgesehen für Menschen mit Covid-19. Dieses temporäre Krankenhaus wurde im August 2020 in Berlin eingerichtet. © Abdulhamid Hosbas/​Anadolu Agency/​ABACAPRESS/​ddp images

 

Zitate der Blogredaktion aus dem Interview der Zeit mit Prof. Drosten:

Im Moment gibt es in der klinischen Versorgung noch ganz viel Puffer. Aber anderswo in Europa sehen wir, dass die Stationen schon wieder voll sind, etwa in Südfrankreich oder in Madrid. Das zu vermeiden, haben wir in der Hand.

 

ZEIT ONLINE: Das heißt, man muss gewisse Werte einfach willkürlich festlegen?

Drosten: Genau, und das ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Politiker muss pragmatisch sagen: “Da ist jetzt mal die Grenze.”

 

Eine Möglichkeit für ein weiteres Kriterium wäre: Man könnte nicht nur die Infizierten zählen, sondern gesondert auch die Infizierten über 50 Jahre. Anhand dieser Zahl könnte man gut prognostizieren, mit wie viel schweren Verläufen man demnächst rechnen muss.

 

Vielleicht sollten wir auch mehr auf die Südhalbkugel schauen, die den Winter schon hinter sich hat. Argentinien zum Beispiel, ein Land mit ähnlicher Altersstruktur wie Deutschland, hat die Pandemie trotz eines langen Lockdowns nur schwer unter Kontrolle gebracht.

 

Und bei einem positiven Test muss ein Hausarzt seine Patienten auf dem Zettel haben, was verhindert, dass Schwerkranke zu spät in die Klinik gebracht werden.

Neue Wege der Begegnung. Durch eine Plastikplane umarmt ein Enkel seine Großmutter. Sie haben sich drei Monate nicht gesehen – wegen des Covid-19-Lockdowns. Long Island im US-Staat New York, Mai 2020 © Al Bello/​Getty Images

ZEIT ONLINE: Es wird aber auch darüber diskutiert, Antigentests an der Tür zu Pflegeheimen einzusetzen, um zu entscheiden, ob jemand seine Angehörigen besuchen darf. Diese Menschen haben in der Regel keine Symptome und trotzdem müsste ein Test zuverlässig erkennen, ob sie infektiös sind.

Drosten: Einerseits wissen wir mittlerweile, dass asymptomatisch Infizierte nicht weniger Virus ausscheiden, höchstens kürzer. Daher gehe ich davon aus, dass ein Antigentest auch bei Infizierten ohne Symptome positiv ausfallen wird. Wenn die Tests einmal validiert sind und sich die Labore ein Bild davon gemacht haben, können solche Tests gerade für Pflegeeinrichtungen ein Gewinn sein, zumal es dort medizinisches Personal gibt, das den Test durchführen kann. Wichtig ist aber, dass in diesem Fall keine Diagnose gestellt wird, sondern nur eine momentane Abschätzung der Infektiosität gemacht wird. Eine Lösung wäre, festzulegen, dass das negative Testergebnis nur für die Dauer des Besuchs Gültigkeit hat und danach verfällt. Unabhängig davon bleibt es aber weiterhin wichtig, Maske zu tragen, Abstand zu halten und die Hygieneregeln zu beachten.

Viel wichtiger scheint mir, die Bevölkerung mitzunehmen. Dazu gehört auch, noch einmal zu erklären, dass doch die meisten Infizierten Symptome bekommen und wie die sich anfühlen können. Selbst in Deutschland gibt es noch so viel Unkenntnis darüber, obwohl wir schon extrem viel geschafft haben bei der Informationsvermittlung.

Ich würde mir von Politikern auch wünschen, dass sie sagen: Wahrscheinlich haben 80 Prozent aller Erwachsenen eben doch Symptome, wenn man die laufende Nase und das leichte Halskratzen mitzählt. Achten Sie darauf. Und wenn Sie so etwas haben, bleiben Sie zu Hause.

 

Gerade Haus- und Kinderärzte haben eine enge Beziehung 
zu ihren Patienten und sollten daher die Botschaft streuen:
 Das ziehen wir jetzt alle gemeinsam durch. Zum Wohle vor 
allem der vulnerablen (verletzlichen) Patienten informieren wir jetzt die
 Menschen und erklären ihnen noch einmal die Dinge.

ZEIT ONLINE: Damit meinen Sie etwa ältere Menschen, die noch dazu ihren Hausärzten besonders vertrauen?

Drosten: Ja, die Daten bestätigen, dass die Sterblichkeit an Covid-19 mit dem Alter enorm zunimmt (MedRxiv: Levin et al., 2020). Es ist ein Virus, das in den letzten zehn Berufsjahren wirklich gefährlich wird – gar kein Vergleich mit der Influenza. Und das dann in den ersten zehn Rentenjahren absolut zu vermeiden ist. Diese Menschen dürfen sich nicht infizieren. Das muss diese Altersgruppe verinnerlichen und das ist noch nicht in ausreichendem Maße passiert, denke ich.

Anmerlung der Blogredaktion:

Hier sehen wir große, wenn nicht riesige, Potenziale bei den thüringer Arbeitgebern (auch im öffentliichen Bereich). Solange Vorschläge für Videomeetings in Chefetagen belächelt oder abgetan werden, wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für einige besonders “agile” Teams ein womöglich böses Erwachen geben.

 

ZEIT ONLINE: Sie sprechen den Impfstoff an. Gehen Sie nach wie vor davon aus, dass im Laufe des nächsten Jahres einer oder mehrere davon auf den Markt kommen werden?

Drosten: Ja, aber zwischen “zugelassen” und “auf den Markt kommen” muss man unterscheiden. Zugelassen werden die ersten Impfstoffe vielleicht sogar schon Ende des Jahres. Die Frage ist nur: Wie viel kann man verimpfen? Erst einmal wird das nicht so viel sein. Deshalb wird man wahrscheinlich diejenigen mit hohem Risiko für einen schweren Verlauf, aber auch Gesundheitspersonal, zuerst impfen.

ZEIT ONLINE: Viele Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Impfstoffe der ersten Generation wahrscheinlich nicht davor schützen werden, dass man sich ansteckt. Stimmen Sie zu?

Drosten: Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie eher vor einem schweren Verlauf schützen als vor der Infektion an sich.

Die Bürger auf eine Impfung vorzubereiten, die möglicherweise nicht perfekt ist: Ich finde, das muss man jetzt angehen.

Christian Drosten

Wir haben in Deutschland eine realistische Chance, besser durch Herbst und Winter zu kommen als viele andere Länder.

 

Dinge, die sind nicht verboten und die kann und will auch keiner regulieren. Es geht darum, dass wir alle die Lage ernst nehmen, während wir versuchen, einen normalen Alltag zu haben. Wir müssen alle dafür ein Augenmaß entwickeln.